Mit Magdalena Kožená singt eine dreifache Mutter die Kindsmörderin Médée in der gleichnamigen Oper von Marc-Antoine Charpentier. Die zurückhaltende Inszenierung durch Nicolas Brieger lässt die Musik – und damit das Barockorchester La Cetra unter Andrea Marcon – zum eigentlichen Star des Abends werden. Von Jenny Berg
Die Inszenierung beginnt mit einem Standbild: Medea kauert stumm am Boden, starrt mit leerem Blick in den Zuschauerraum. Links und rechts von ihr liegen ihre beiden Söhne, regungslos. Wie tot, möchte man meinen, und genau ihr Tod ist es, der die Geschichte von Medea so anstössig – und leider auch aktuell – macht: Zwei unschuldige Kinder, getötet durch die Hand ihrer eigenen Mutter. Medea ist kein Preis zu hoch, um Rache an ihrem untreuen Ehemann zu üben.
Ist das der ungeheure Höhepunkt dieser Oper, angedeutet, vorweggenommen, verpufft? Die luftig-heitere Barockmusik fegt aufkeimende Zweifel im Nu weg. Die Szenerie beginnt sich zu bewegen; Medea spielt mit ihren Kindern Fangen. Zwei schwarzlederne Sitzmöbel deuten ein Wohnzimmer an. Verschiedene Ebenen, Rampen, Flure und ein Lift machen den im modernen, grau-silbernen Hotelstil gehaltenen königlichen Palast Créons in Korinth aus (Bühne: Raimund Bauer). Hier hatte Medea Asyl gefunden, nachdem sie – aus blinder Liebe zu ihrem Ehemann Jason – den grössten Schatz ihrer Familie, das goldene Vlies, gestohlen, den eigenen Bruder zerstückelt und den Onkel Jasons ermordet hatte. Medea, das Mischwesen mit Zauberkräften, half ihrem Helden Jason zu Ruhm und Ansehen. Er dankte es, indem er sich in Créons Tochter Créuse verliebte.
Der Verlauf dieser Geschichte ist seit der Antike immer wieder anders gewichtet worden. Im Libretto von Thomas Corneille nimmt Medea die Intrigen und Liebeleien um sich herum wahr, prüft, fragt nach, droht, gibt Lösungsvorschläge, reflektiert – bis sie sich zum radikalen Racheakt entschliesst, der Jason den gleichen Schmerz fühlen lassen soll wie sie. Sie ermordet nicht nur ihre eigenen Kinder, sondern lässt zuvor den König im Wahnsinn seinen potenziellen Schwiegersohn Oronte und sich selbst töten und Créuse bei lebendigem Leib vor den Augen Jasons verbrennen.
Fühlbare Musik
Die Musik Marc-Antoine Charpentiers illustriert Medeas Weg nicht nur, sie gestaltet ihn und treibt ihn voran. Mit unglaublicher Farbigkeit, unzähligen filigranen Verzierungen, einem umfangreichen Repertoire an verschiedensten Tanz-Rhythmen und mit der zarten Lieblichkeit der französischen Sprache im Melodiefluss gleitet und fliegt diese Musik, zeigt mit feinsten Schattierungen die emotionalen Wechselbäder ihrer Protagonisten an.
Dass dies so plastisch hörbar ist, ist dem La Cetra Barockorchester unter Andrea Marcon zu verdanken. Diese ureigene Frucht der Musikstadt Basel – das Orchester besteht aus Absolventen der Schola Cantorum Basiliensis – ist mit solch einer Selbstverständlichkeit mit dem Stil dieser Musik, mit den Raffinessen der alten Instrumente, mit den diffizilen Rhythmen und Rhythmuswechseln vertraut, dass Marcon stets flüssige, zügige Tempi anschlagen kann, ohne dass es den Reichtum der Klangfarben je einmal reduzieren würde. Und ohne dass es je einmal verhetzt klingt. Nur die Gesangssolisten – etwa Luca Tittoto als Créon mit markantem, solidem Bariton – taten sich in der Premiere manches Mal schwer, den Takt zu halten. Vielleicht, weil sie selbst so laut sangen und das mitunter weniger durchdringende Barockorchester auch einmal übertönen konnten.
Stimmgewalt und leise Musik
Auch auf anderen Ebenen ist die Kombination aus einem grossen Opernhaus, das voluminöse Stimmen verlangt, die man auch in der letzten Stuhlreihe noch versteht, und der Filigranität der französischen Barockmusik, der leichte, flexible Stimmen entgegenkommen, nicht optimal ausgestaltet. Anders J. Dahlin als Jason etwa überzeugte mit seinem weichen, ungemein biegsamen Tenor, der wie kein anderer in dieser Inszenierung die Leichtigkeit der Musik mit all ihren kleinen Verzierungen singen konnte. Doch ist diese Fähigkeit mit einer eher leisen, im dynamischen wenig Raum aufweisenden Stimme erkauft.
Meike Hartmann als Créuse passte mit ihrem hellen, leichten Sopran gut zu ihrem Liebhaber Jason, Créuses Verlobter Oronte (Robin Adams) wiederum war mit seinem fundierten, kräftigen Bariton eher ein Pendant zur ebenfalls betrogenen Medea.
Magdalena Kožená als Medea verlieh der Premiere einen gewissen Starglanz. Stimmlich schien sie sich im ersten Teil etwas zurückzunehmen, um der umfangreichen Rolle auch kräftemässig gewachsen zu sein. Das dunkle Timbre ihres Mezzosoprans entwickelte dann in der zweiten Hälfte eine umso stärkere Strahlkraft.
Musik über alles
Schade nur, dass die wechselvollen Empfindungen der Figuren durch die Personenregie so wenig herausgearbeitet wurden. Nicolas Brieger liess in seiner Inszenierung der Musik allen Raum zur Entfaltung; die Figuren aber konnten diesen Entfaltungsspielraum nicht selbstständig füllen. Medea etwa durchschreitet extreme Empfindungen – von inbrünstiger Liebe über Angst, Enttäuschung, Wahnsinn, Rachgier – und zeigt dies in ihrer Körpersprache nur mit einem kleinen Arsenal an Bewegungen. Mal zuckt sie, mal reisst sie sich die Haare aus, mal stellt sie ihre Arme im rechten Winkel zueinander, als sei dies die magische Beschwörung ihres Zaubers. Dass sie über weite Strecken in einem Kellerloch unter der Bühne hausen und gleich zu Beginn ihr goldenes Kleid (Kostüme: Bettina Walter) an Jason für seine Geliebte Créuse abgeben muss, um fortan im Morgenmantel über die Bühne zu wandeln, raubt ihrer Erscheinung all jene Kraft, die sich dann erst in ihrem Blutbad exponiert.
Auch Jason bleibt der zwielichtige Verliebte, Créuse die unschuldig lachende, aber hinterlistige Königstochter, Créon der ahnungslose König – kaum einer macht in dieser Oper eine sichtbare Entwicklung durch. Diese vermag allein die Musik – so dass es nicht verwunderte, dass in dieser begeistert beklatschten Premiere der Dirigent, sein Orchester und das La Cetra Vokalensemble am meisten Applaus erhielten. Unfassbar, dass manche dieser grossartigen Musiker womöglich nach Ende der Spielzeit Basel verlassen müssen – weil ihre Aufenthaltsbewilligung ausläuft.
© Jenny Berg, Tages Woche