Magdalena Kožená´s Darstellung der „Medea" am Theater Basel macht Angst
Kein schöner Stoff. Eher ein SplatterDrama, zweitausendvierhundert Jahre bevor man das Blut-und-Kettensägen-Genre erfand. Ein Thema, so erbarmungslos und ohne Hoffnung, zum Fürchtenmachen. Kein im Leben geerdeter Mensch wird sich dieses Waten in Blut und Elend ohne Abscheu und Erschütterung anschauen, und man fragt sich unwillkürlich, was das für Barbaren waren, damals im griechischen Epidauros, für die Euripides, einer der Väter des europäischen Theaters, 431 vor Christus seine „Medea"-Tragödie schrieb.
Von der tödlichen Eifersucht einer Frau und vom Mord einer Mutter an ihren Kindern handelt dieses Stück, von einer Welt, die moralisch wie menschlich aus den Fugen läuft und sich vor unseren Augen in ein Schlachthaus verwandelt. Trotz dieser Blutrünstigkeit hat der zugrundeliegende Sagenstoff eine unerwartete Wirkungsmacht entfaltet – irgendeine archaische Saite in uns bringt er zum Klingen, so dass immer wieder Künstler, vor allem Literaten und Komponisten, an die Nachgestaltung des Mördermuttermythos gingen. Allein mehr als ein Dutzend „Medea"-Opern sind aus dem Barockzeitalter überliefert; die Beethoven-Zeitgenossen Giovanni Simone Mayr und Luigi Cherubini versuchten sich an dem Stoff, und noch 2010 ließ Aribert Reimann an der Wiener Staatsoper seine Version des Mutterdramas folgen. Alle diese Werke verlangen leider etwas scheinbar Unmögliches: eine glaubhafte Darstellerin für die Titelrolle. In Basel hat man jetzt eine gefunden.
Das Theater Basel hat in den neun Jahren unter der Leitung von Georges Delnon, dem künftigen Intendanten der Hamburgischen Staatsoper, eine beachtliche Reihe mit Barockopern-Trouvaillen produziert. Zum Abschluss und als Krönung hat man sich nun einen Weltstar geleistet – für ein lange vergessenes Juwel, für Marc-Antoine Charpentiers „Médée" von 1693. Zwar singt Magdalena Kožená nur fünf der geplanten Aufführungen – aber wie sie dies tut, ist Schock und Offenbarung zugleich.
Kožená will nämlich überhaupt kein Star sein – sie überstrahlt das vorzügliche Hausensemble nicht, gibt ihren Bühnenpartnern Raum, indem sie sich zunächst sogar eher am Rande hält, und bleibt auch gestisch wie musikalisch anfangs ganz bei sich. Denn ihre Medea ist von einer tiefen inneren Traurigkeit erfüllt. Gerade noch im Hochgefühl des Verliebtseins, hat sie erkennen müssen, dass der Mann, für den sie ihre Zauberkünste missbraucht und sogar gemordet hat in Kolchis, sich gerade in eine andere verguckt. Dabei bilden sie und Jason doch seit dem Raub des Goldenen Vlieses eine offenbar auch erotisch erfüllte Schicksalsgemeinschaft. Umso größer ist der Schmerz, den Medea über seinen Verrat empfindet, und es gehört zu den Meriten dieser Aufführung, dass Magdalena Kožená im Ausdruck dieses Schmerzes nie vordergründig laut, eher immer leiser, verhaltener wird, als wollte sie vor Kummer verstummen. Doch es ist die Stille vor dem Gemetzel.
In ihrer großen Soloszene „Le prix de mon amour" – einem dieser frühen Opernwunderwerke, für das allein sich die Aufführung des ganzen Stückes lohnt – gewährt Medea einen Blick in ihr Herz: Jede einzelne Stufe der Ernüchterung, des Erkaltens ihrer Liebe lässt uns Kožená mitfühlen, immer tiefer geht es hinab mit ihr in den Hades des Hasses. Bis es keinerlei Grenzen mehr gibt. Medea, die entfesselte Zauberin, beschwört eigenhändig die Töchter der Hölle herauf, die „filles terribles du Styx"; doch das ist – strenggenommen – nur Metaphernfolklore, wenn auch eine, die Charpentier zu hinreißend infernalischen Klängen inspirierte. Aber die Medea von Magdalena Kožená hält sich bei solchem Hexenkarneval nicht auf, sie steigert sich in einen Blutrausch, und das mit einer Bedingungslosigkeit, dass nur ein derzeit vielbemühtes Wort dafür bleibt: Medea wird zur Terroristin.
Kožená spielt und singt dieses furchteinflößende Rollenporträt mit einer kühlen, um nicht zu sagen: kaltblütigen Präzision, hinter der gleichwohl heiß das Feuer des Fanatismus lodert – so eindringlich, als habe sie sich exzessiv in die Psychologie von Amokläufern und Massenmördern vertieft. Dies bleibt immer Kunst, erreicht aber eine solche Intensität, dass selbst abgebrühte Opernbesucher am Ende froh sind, als beim Schlussjubel ein zaghaftes Lächeln in ihre vom Hass verzerren Züge zurückkehrt. Freilich wäre diese Glanzleistung nicht möglich ohne die fulminante musikalische Unterstützung, die Kožená durch das Barockorchester La Cetra unter dem Originalklang-Experten Andrea Marcon erfährt. Er hat ein waches Gespür für die herrlichen Farben dieser Musik, verleiht ihr aber gleichzeitig eine dramatische Zugkraft, als wär's die „Elektra" von Strauss. Zudem steht das Basler Sängerensemble Kožená in der Genauigkeit der Rollengestaltung nicht nach, auch stimmlich sind an diesem Abend Entdeckungen zu machen.
Besonders angenehm im Ohr bleiben Meike Hartmann als Medeas Nebenbuhlerin Créuse und Anders J. Dahlin als Jason. Dahlin verfügt, eine seltene Gabe, über eine Tenorstimme, die oberhalb des Notensystems, dort, wo es für andere eng wird, erst richtig aufblüht – ein idealer Sänger für das inzwischen kaum noch zu besetzende hohe französische Fach. Die Regie von Nicolas Brieger hilft ihm, indem sie Jason nicht als skrupellosen Frauenhelden zeichnet, sondern als sensiblen Liebenden, zerrissen von widerstreitenden Gefühlen. Überhaupt wagt Briegers unaufgeregte, handwerklich tadellose Inszenierung etwas Seltenes: Sie dient dem Werk. Ohne Mätzchen und falsche Ambitionen. Die Wirkung ist ungeheuerlich.
© Christian Wildhagen