Die “lyrische Tragödie ” in fünf Akten von Marc-Antoine Charpentier nach dem Libretto von Thomas Corneille, dem Bruder des berühmten Pierre Corneille, entstand zu Ehren des Sonnenkönigs und wurde 1693 an dessen Pariser Hof uraufgeführt. Ludwig XIV. sah sich die Oper immerhin vier Mal an, dennoch geriet das Stück bald in Vergessenheit und wird auch heute noch eher selten aufgeführt – zu Unrecht, wie man in Basel an der Schweizer Erstaufführung feststellen kann (was wieder beweist, dass Ludwig einen zwar teuren, aber ausgezeichneten Geschmack hatte).
Der Königspalast von Korinth (Bühne: Raimund Bauer) gleicht eher einem Boutique-Hotel mit Lift und Hotelangestellten, die Ausstattung ist aber elegant und zurückhaltend, und überlagert so weder Handlung noch Protagonisten. Gleiches gilt für die Kostüme (Bettina Walter) vom zeitlosen Militärmantel über die Zimmermädchenoutfits bis zum glitzernden Abendkleid. Und schliesslich ein Hoch auf die ausgezeichnete Personenführung und Absenz von störenden Regieeinfällen: Nicht viele Regisseure können ihr Ego dem Dienst am Stück unterordnen. Nicolas Brieger kann es.
Dabei geht in Korinth durchaus die Post ab: Der im Exil lebende Jason ist seiner meist schlechtgelaunten Gattin Médée bald überdrüssig und erhofft sich von der Allianz mit der schönen Königstochter Créuse einen Karrierepush. König Créon befürwortet die prestigeträchtige Verbindung seiner Tochter mit dem Helden, hält aber den anderen Bewerber um Créuses Hand, König Oronte, zwecks Verstärkung im Krieg gegen Acastes warm. Als Créon jedoch Médée aus Korinth verbannen will, kommt es zum unvermeidlichen Eklat. Dabei gäbe es noch einen letzten Ausweg aus der Katastrophe: Oronte bietet Médée Asyl in Argos an. Der Zuschauer schöpft Hoffnung, die beiden könnten doch… – vergeblich: Médées Hass sitzt bereits zu tief, die innere Zerstörungsmaschinerie ist schon in Gang gesetzt.
Weltstar Magdalena Kožená als Médée irritiert anfänglich zwar durch eine wohl gewollt schwammige Diktion, ihre melodiöse Stimme, Bühnenpräsenz und schauspielerische Dramatik sind aber überragend. Ihre Rachearie “Quel prix de mon amour” und die anschliessende Heraufbeschwörung der Mächte der Unterwelt (“Noires filles du Stix”) sind unbestritten der Höhepunkt des Abends. Auch Anders J. Dahlin als Jason musste sich erst warm singen, seine kristallene hohe Haute-Contre-Stimmlage mit präziser Tonführung ist aber ein wunderbarer Kontrast zu dem absichtlich schlampigen Mezzosopran seiner Gattin (die Stimmlagen sind ja eigentlich Tenor und Sopran) und unterstreicht seine Gefühlskälte. Trotz der übermächtigen Bühnenpräsenz der Kožená kann sich Meike Hartmann als Créuse wunderbar behaupten, sowohl stimmlich als auch darstellerisch. Der Bassist Luca Tittoto als Créon kontrastiert mit seinem tiefen, warmen Bass perfekt die helle klare Stimme seiner Tochter. Die Szene, wie er sich von den von Médée hergezauberten weiblichen Wesen auskleiden und in den Wahnsinn treiben lässt, ist mehr als sehenswert. Auch Robin Adams als Oronte und Silke Gäng als Nérine machen ihre Sache gut.
Das La Cetra Barockorchster Basel wird von Andrea Marcon auch schon mal vom Cembalo aus mit vollem Körpereinsatz dirigiert. Selten hat man Barockmusik so dynamisch gehört. Und gesehen! Schliesslich sitzt das Orchester die ganze Zeit über auf der Bühne. So einen Auftritt lässt sich der ausgezeichnete Chor (La Cetra Vokalensemble, Leitung: Karel Valter) auch nicht nehmen: Die blutigen Zeugen von Créons Wahnsinn und Tod taumeln mit den schlechten Nachrichten von der Seite effektvoll beinahe in den Zuschauerraum.
Die Musik von Charpentier weist viele ungewöhnlich moderne Stellen auf, auch seine Art der Rezitative ist richtungweisend. Nicht von ungefähr dient das Präludium aus Charpentiers Te Deum heute noch als Eurovisions-Erkennungsmusik. Médée eignet sich vorzüglich, um diesen beinahe vergessenen Komponisten zu rehabilitieren.
Es kommt, wie es kommen muss, der Katastrophenstrudel dreht sich immer schneller und reisst Schuldlose wie Schuldige gleichermassen mit sich. Créuse verbrennt im vergifteten Kleid, und Médée tötet ihre beiden Kinder, bevor sie effektvoll im feuerspeienden Fahrstuhl verschwindet. Eine alte Sage aus alter Zeit. Und dennoch hat eine Mutter in Zürich vor ein paar Wochen auch ihre Kinder ermordet. Auch sie wusste keinen Ausweg mehr. Vielleicht Gratiskarten an die KESB schicken?
© Alice Matheson, Online Merker